Cidre

Bäume der Erkenntnis

Bäume der Erkenntnis

Zwischen dem Bodensee und mit Plastik überdachten niederstämmigen Apfelanlagen führt eine Schnellstrasse durch den Thurgau Richtung Egnach. Die Abzweigung in den kleinen Weiler Stocken führt direkt ins Paradies. Auf zehn Hektaren kultivieren hier Helmut Müller und Katrin Bühler in der vierten Generation über 600 verschiedene hochstämmige Obstbäume. Es wuchert, blüht und strotzt vor Vitalität in diesem Garten, und wem diese Umgebung kein Lächeln entlockt, ist hoffnungslos verloren. Vollkommen extensiv gedeihen hier auf einer saftigen Weide mächtige Birnbäume, filigrane Apfelbäume, Kirschen und Pflaumen. Der Garten genügt sich mit den händischen Interventionen von Helmut und Katrin, dem gemähten Gras, den fallenden Blättern und Ästen, den unzähligen Insekten und Vogelarten selber. Im Zentrum thront die Königin des Gartens. Sie ist über 300 Jahre alt aber nicht zu müde, um sich mit einem dichten Mantel an kleinen Wildbirnen zu überziehen. Die Früchte dieser «Wagners Wildbirne» sind äusserst begehrt und verleihen unter anderem dem Poiré von Jacques Perritaz seine besondere aromatische Dimension.

Vor rund 20 Jahren inspirierte Jacques ein ähnlicher Prachtsbaum im Freiburgischen Hinterland zu seinem ersten Cidre. Die vollreifen, säuerlichen und hocharomatischen Früchte der «Rose de Torny» bedeuteten den Anfang eines Projektes, das nicht nur die Cidre-Kultur in der Schweiz zum Leben erweckte, sondern seine Erzeugnisse heute in rund 30 verschiedene Länder exportiert. Mit der Cidrerie du Vulcain erhielten die wertvollen Früchte alter Weinobstbäume eine neue und entsprechende Wertschätzung und Verwendung. Landeten die delikaten Früchte früher in den belanglosen Produkten der industriellen Mostereien oder erfreuten Würmer und Vögel, begeistern heute die Cidres von Jacques Perritaz Gäste in den besten Restaurants rund um den Globus. Die Streuobstwiese oder Hofstatt ist nicht mehr nur die bedeutendste extensiven Enklave in der Schweizer Kulturlandschaft und wichtiges Ökosystem für Vögel und Insekten, sie liefert neuerdings die Früchte für qualitativ herausragende Erzeugnisse aus der heimischen Landwirtschaft. Erzeugnisse, die in ihrer Einzigartigkeit das Potential zum Exportartikel umfassend beweisen. Es stellt sich eine neue Wertschöpfung für Hofstattbesitzer und Bauern ein, was die Chance auf den Erhalt dieser Kulturlandoasen und ihren unzähligen raren Varietäten bedeutend verbessert.

Auch Beni Oswald und Markus Ruch sind durch die Gärten von Helmut und Katrin gewandelt und haben den Cidre von Jacques verinnerlicht. Beide erleben sie im Alltag die harte, aufreibende Arbeit in den Reben der Domaine Markus Ruch und beide beobachten sie die zunehmend anspruchsvolleren Bedingungen, um Trauben in existenzsichernden Mengen zu ernten, ohne dabei Kompromisse in ihrem landwirtschaftliche System und ihren Qualitätsansprüchen eingehen zu müssen. Auf einigen Rebparzellen, die früher wegen ihrer Lage als minderwertig galten, ergänzen alte hochstämmige Apfelbäume und extensives Weideland die Reben. Diese Parzellen mit ihrer Diversität wurden für Markus Ruch zu den Lieblingsplätzen im Weingarten. Auf herbstlichen Fahrten durchs Klettgau blieben Markus und Beni die ungenutzten Früchte alter Obstbäume nicht verborgen und die Mosterei Oswald+Ruch wurde zum konkreten Projekt. Der Weinbau hat sich mit der Mosterei diversifiziert und erhält sich so die konzeptionelle und ökonomische Unabhängigkeit. Die Mosterei kultiviert und nutzt die brachliegende Hofstatt des früheren landwirtschaftlichen Mischkulturbetriebs. Markus Ruch ist dabei längst nicht der einzige Weinbaubetreib, der auf den Einsatz von Chemikalien verzichtet und den Rebbau mit Obst- und Getreidebau oder Tieren ergänzt.

Dem begnadeten Koch und leidenschaftlichen Jäger und Sammler Bruno Bucher ist auf seinen Streifzügen durch das Berner Umland das Potential der ungenutzten Hofstätten ebenfalls nicht verborgen geblieben. Mit seiner Cidrerie Heftig ergründet er zusammen mit Simon Rudaz die Eigenschaften und Ausprägungen der einzelnen Varietäten, indem er sie reinsortig ausbaut. Der Engishofer von der Cidrerie Heftig zeigt die ganze Faszination auf, die von diesem Getränk ausgehen kann. Der noch junge Cidre zeigt sich aktuell mit einer charmanten Süsse, gepaart mit einer verführerischen Aromatik. Die Süsse wird sich mit zunehmender Flaschenreifung weiter abbauen, bis der perfekte Zeitpunkt eintritt und sich Süsse und Säure die Waage halten. Die kaum oder gänzlich ungeschwefelten Cidres erfahren eine einzige spontane Gärung und entwickeln sich in der Flasche laufend weiter. Die Mineralität des Engishofer wird mit der Zeit markanter, und der Cidre wird dann ein spannender Essensbegleiter werden. Cidre aus Apfelsorten entwickeln sich normalerweise schneller als die Birnen Cidre. So wäre es denn auch jammerschade um den Poiré 2009 von der Cidrerie du Vulcain, wenn er auch nur ein Jahr früher auf den Markt gekommen wäre. Die die Ausprägung eines Cidres bestimmen im Grunde die identischen Faktoren wie beim Wein aus Trauben – es ist das Zusammenspiel von Ort, Baum, landwirtschaftlichen Interventionen und Vinifikation. Vulcain, Heftig und Oswald+Ruch werden die noch junge Cidre-Kultur hierzulande weiter ergründen und die Faszination für das selbstverständliche, spannende und vor allem äusserst bekömmliche Getränk weiter vorantreiben.