Kulturgut Wein

Kulturgut Wein

Kulturgut Wein

Von Severin Aegerter

Cultivino – der Name ist heute so sehr Programm, wie es der Moment der Wortschöpfung vor fünfzehn Jahren höchstens als leise Vorahnung vorsah. Was genau aber ist es, was Weinen die Kraft verleiht, zu berühren und zu inspirieren? Welche Voraussetzungen bedarf es, dass ein Wein dem seltenen Typus entspricht, in der Lage zu sein, einen kulturellen Kontext zu erschliessen und sich von der unendlichen Schwemme banaler Techniktropfen erheben zu können? Auf diese Frage gehen wir hier näher ein und richten die Öffnung der Camera obscura auf identitätsstiftende Aspekte der Weinbereitung.

Es ist der Ort, der seine Weine beseelt. Und es gibt die besonderen Orte, intakte Biotope mit markanten prägenden Elementen von Urgestein, kargen Böden, einer hohen pflanzlichen Diversität oder günstigen klimatischen Voraussetzungen, beeinflusst durch Topografie und Exposition. Im Idealfall ist der Weinbau Teil der kulturellen Geschichte dieser Orte, mit einer heimischen Varietät, die durch ihre Physiologie in diese Umgebung passt. Oft sind besonders eindrückliche landschaftliche Konstellationen optimale Lebensräume für herausragende, markante Weine.

Damit besondere Orte letztendlich auch Weine hervorbringen, die eine atmosphärischen Ebene besitzen, bedarf es eines Winzers, der nie müde wird, seine Umgebung zu erforschen und sich von vorhandenen Gegebenheiten inspirieren und leiten sowie neu gewonnene Erkenntnisse laufend in seine Arbeit im Weingarten und in der Weinbereitung einfliessen lässt. Diese Winzer lassen sich auf einen Ort ein, lassen sich von ihm faszinieren und, wie Roland Velich von Moric zu sagen pflegt: «Sie lassen Wein zu».

Der Streifzug durch die Weingärten von Christian Zündel im Malcantone macht sichtbar, was sonst verborgen bleiben würde: die alte Kulturlandschaft, dem «Urwald» von Beride und Castelrotto abgerungen, die Adern des Gneis, die am Waldrand neben den Weingärten von Ronco sichtbar werden, die zarten natürlichen Arrangements von Farn und wilden Rosen, die sich um und im Weingarten bilden. Man hält inne und lässt den Blick hinunter ins Tresa-Tal schweifen, das zum nahen Lago Maggiore führt und weiter zum Horizont, der durch den imposanten Gebirgszug des Monte Rosa begrenzt wird. Vor der uralten Hagebuche, die an der äussersten Kuppe des Sass fest verwurzelt über die Weinreben wacht, beginnt man zu verstehen, dass die Reben hier in einem Kontext stehen und gesehen werden, und dabei als Rezeptoren all die verschiedenen Einflüsse in einer Frucht vereinen. Hier gedeihen Trauben, die nicht in erster Linie Merlot oder Chardonnay sind, sondern vor allem die Identität des Ortes in sich tragen.

Genau dieser Identität auf den Grund zu gehen ist erklärtes Ziel von Markus Ruch. Diesem Anspruch ordnet der junge Winzer in einer beeindruckenden Konsequenz alles unter. Seine ausgiebigen Lehr- und Wanderjahre führten ihn unter anderem auch zu Christian Zündel und endeten schliesslich im nördlichsten Weinbaugebiet der Schweiz, im schaffhausischen Klettgau. Hier glaubt Markus Ruch ein vorzügliches Biotop für seine geliebte Varietät Pinot Noir gefunden zu haben. Obwohl das Klettgau das grösste zusammenhängende Weinbaugebiet der Deutschschweiz ist, erforscht Markus Ruch mit seinem Weinbau im Klettgau ein nahezu unbearbeitetes Feld. Die meisten Weinbauern in der Gegend produzieren Trauben für Grosskellereien und sind nicht interessiert an einem aufwändigen Rebbau und an der Suche nach Perfektion und Exzellenz. In den wenig begehrten Ostlagen findet Markus Ruch intakte Konstellationen für seine Vorstellung von Weinbau. Die Weingärten sind umgeben von Magerwiesen, auf denen Schafe weiden. Hochstämmige Apfelbäume und Wildkirschen tragen zur intakten Biodiversität und spannenden Kulturlandschaft bei. Eine Vielfalt, die zur Komplexität und Originalität der Weine von Markus Ruch beiträgt. Die Weinbereitung versteht der Winzer denn auch nicht als Prozess zur Gestaltung des Weins. Der Wein ist aus der Sicht von Markus Ruch definiert, sobald die Trauben von den Stöcken getrennt werden. Die Kellerarbeit dient zur Erhaltung und Akzentuierung der Informationen, die die Trauben in sich tragen. Weine von Winzern wie Markus Ruch und Christian Zündel bleiben denn auch untrennbar mit ihrer Wiege verbunden und sind Teil ihrer kulturellen Identität.

Roland Velich von Moric sieht im Kulturgut Wein gar das Potential und die Kraft, eine verloren gegangene kulturelle Identität auferstehen zu lassen. Sein Blaufränkischprojekt im Burgenland war von Beginn weg darauf angelegt, das Weinbaugebiet Burgenland als westlicher Ausläufer der pannonischen Tiefebene zu definieren. Durch den eisernen Vorhang zur ungarischen Grenze wurde gekappt, was geologisch und klimatisch eine Einheit bildet, und dem Burgenland wurde durch die Grenzziehung das einst prosperierende städtische Zentrum Sopron geraubt. Die logische Weiterentwicklung des Projektes Moric sieht Roland Velich denn auch in der Überwindung der politischen Grenze und in der gezielten Förderung von Attila Homonna und seinen grossartigen Weissweinen aus dem Tokaj, der Region am östlichen Ende der pannonischen Tiefebene, die sehnlichst darauf wartet, Impulse zu empfangen, um den einstigen Glanz der fantastischen Weinregion neu erstrahlen zu lassen.