Standpunkt Nr. 2

Die neue Steiermark: Was hier alles neu wird – und noch besser, als es eh schon war

Von Christian Seiler

Der Hof von Sepp Muster liegt so weit im Süden, dass nicht nur die Türme der Wallfahrtkirche „Zum Heiligen Geist" in Selnica ob Dravi zu sehen sind, die direkt an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien auf dem Osterberg steht, auch das Handy in der Hosentasche meldet Roamingalarm: Willkommen im Netz der Telekom slovenje.

Dabei ist das steirische Weinland kaum irgendwo so schön wie hier, ein paar Hügel von Leutschach entfernt, wo Musters breitschultrige, gelb gestrichene Häuser in der Mitte seiner Weingärten stehen, fantastischer Blick in alle Richtungen. Hügel, Wald, Wein. Alle Spielarten von Grün. Einzelne Häuser auf den Hügelkuppen, und überall die sorgfältig gekämmte Struktur, die eine Weinlandschaft durch die geometrische Ordnung der Weinzeilen erhält.

Es gibt viele Orte in der Steiermark, an denen man stehenbleiben und sich im Blick über die Landschaft verlieren kann, aber Sepp Musters Hof ist besonders. Muster ist ein freundlicher, gelassener Mann von fast 50 Jahren. Er macht hier Wein, der nicht so ist, wie man es in der Steiermark gewohnt war. Einige große Winzer haben in den letzten dreißig Jahren mit genau definierter, zugänglicher Stilistik und einem feinen Gespür für gutes Marketing die Südsteiermark auf die Landkarte des europäischen Weins gehievt, es kamen andere, die ihnen nacheiferten.

Die Sache hatte Erfolg, gute Bewertungen, steigende Preise. Eine ganze Reihe moderner, architektonisch selbstbewusster Weinkellereien in Premiumlage zeugt davon. Muster hat sich für einen anderen Weg entschieden. Seine Weinstöcke, die auf bis zu 65 Grad steilen Hängen stehen, haben viel Platz. Die Trauben werden nicht reduziert, die Ranken der Reben nicht zurückgeschnitten. Muster arbeitet nach biodynamischen Grundsätzen, er hat seine naturnahe Arbeit von „Demeter" zertifizieren lassen. Der Winzer, und das ist vielleicht der springende Punkt in Musters Arbeit, hat keine Vorstellung davon, wie sein Wein schmecken soll.

„Der Wein", sagt Muster, „muss werden, wie er will."

Es ist ein individueller Ansatz, den Muster gemeinsam mit vier Kollegen, mit denen er sich zur Vereinigung „Schmecke das Leben" zusammengeschlossen hat, vertritt. Es ist eine neue Art, die Voraussetzungen der westlichen und südlichen Steiermark, des Landstrichs zwischen Stainz und Ehrenhausen, zu interpretieren, die steilen Rebberge, die oszillierenden Mikroklimata, den kühlen Wind, der von der Koralpe über die Rebberge weht. Hier gehen ein paar Individualisten einen Schritt weiter und definieren eine neue Form von kulinarischer Brillanz, ergänzen das vorhandene Angebot an einfachem Essen und Trinken um eine neue, komplexe Dimension.

Sepp Muster keltert Sauvignon, Chardonnay, der hier „Morillon" genannt wird, etwas Muskateller und ein bisschen Rotwein. Seine Lagen heißen Opok, Graf und Sgaminegg. Alle Weine haben eines gemeinsam: Sie schmecken nicht vordergründig nach ihrer Sorte, sondern nach dem Boden, wo sie wachsen. Muster unterstützt das. Die Weine bekommen Zeit, zuerst im Fass, dann in der Flasche. Demnächst kommt erst die Ernte 2011 auf den Markt. Die Weine gehen, wie das Wurzelwerk der Stöcke, in die Tiefe. Ihre Aromatik ist vielfältig, balanciert, lebendig - und sehr eigenständig. Es ist keine Überraschung, dass eine neue Generation von Sommeliers diese Weine liebt. In der skandinavischen Spitzengastronomie, die besonders auf Authentizität fokussiert ist, fanden Musters Weine zuerst ein begeistertes Publikum, zu Hause dauerte es etwas länger.

Ewald Tscheppe kennt das Problem. Sein Weingut „Werlitsch" ist ein paar Hügel von Sepp Muster entfernt, es liegt etwas abgeschieden in einer Traumlandschaft. Auch Tscheppe arbeitet biodynamisch, er tauscht sich mit „dem Sepp" intensiv aus, wenn es um die Bewirtschaftung der Weingärten geht oder um den richtigen Zeitpunkt für die Lese. Tscheppes Weine, allesamt Cuvées von Sauvignon und Morillon, heißen „Ex vero" und sind in drei Kategorien gegliedert.

Sämtliche Weine sind von bestechender Klarheit und einem fabelhaften Reichtum an Aromen, man könnte fast sagen: an Poesie. Dass sie nebenbei vital und bekömmlich sind, ist ein Spiegel der schonenden Arbeit in Rebberg und Keller.

„Uns schmeckt dieser Wein sehr gut", sagt Sommelier Christian Zach, als er die Extraabfüllung von „Werlitsch" zum Dotterraviolo von Gerhard Fuchs aufträgt, einen Wein, der speziell zu diesem Gericht abgefüllt wurde, dann beginnt er dieses Warum zu erörtern. Details der Produktion, der Philosphie, der - wie Zach findet - Vorzüge dieser neuen Weinstilistik.

Gäste hören zu und nicken. Nehmen einen Schluck, mhm, interessant. Zweiter Schluck, mhmm, sehr gut sogar.

Die Sonne scheint schräg in den Kubus aus Glas und Holz, in dem die Gaststube des „Kreuzwirts" untergebracht ist, und einmal mehr entfaltet die Landschaft, vom Architekten des Zubaus geschickt inszeniert, ihren Zauber. Der „Kreuzwirt" ist eines der besten Restaurants der Südsteiermark. Er gehört den Winzern Erich und Walter Polz, Granden der südsteirischen Gründerzeit, die fanden, dass die Region ein Spitzenrestaurant vertragen könnte. Mit Gerhard Fuchs, der eine Stunde entfernt in den „Saziani Stub'n" „Koch des Jahres" geworden war, holten sie einen Mann, der die Region bereits kannte und souverän in eine französisch grundierte Regionalküche übersetzen kann. Dazu wurde Christian Zach engagiert, einer der besten Sommeliers Österreichs, der die Brücke zwischen der Kochkunst von Fuchs und den alten und neuen Qualitäten des südsteirischen Weinbaus schlagen kann.

Zum Aperitif kommen Schinken vom Wollschwein und deliziöse Krautkrapfen im Miniformat. Als Starter variiert Fuchs ungarische Gänseleber zuerst mit Karottensalat und dann - jeder Gang wird in zwei Teilen serviert - mit einer fantastischen Karotten-Verjus-Suppe. Ein Stück Hecht kommt mit Spinat, Brennesseln und jungem Knoblauch, dann der Dotter-Raviolo unter einer dicken Schicht von istrischem Sommertrüffel.

Gerhard Fuchs ist kein Freund von Dogmen, und wenn er seine Küche charakterisieren soll, meint er salopp, er mache einfach „etwas zum Essen". Damit will er herausstreichen, dass er kein Dogmatiker ist, was die regionale Herkunft seiner Produkte betrifft: Fleisch, Fisch, Gemüse, klar holt er sich die aus der Nähe. Aber wenn er zum Maibock etwas Kakaogeschmack haben möchte, dann verbietet er sich das auch nicht.

Der Süden der Steiermark ist auf Genüsse jeder Art eingerichtet. In zahllosen Buschenschanken an den Weinstraßen gibt es deftiges Essen, steirischen Wein und fantastische Blicke in die Landschaft. Die Wirtshäuser servieren Schweinsbraten und Salat, der im Kernöl schwimmt, aber die Verfeinerung bahnt sich ihren Weg.

In Leutschach, gegenüber der Kirche zum Heiligen Nikolaus, hat der Autodidakt Thomas Riederer sein Restaurant „T.O.M am Kochen" eröffnet und etwas kreative Unberechenbarkeit in die bis dahin übersichtliche Dorflandschaft getragen. T.O.M. verzichtet zum Beispiel nach gutem, italienischem Vorbild auf eine Speisekarte und kocht gemeinsam mit einem Mitarbeiter, was ihm so einfällt, etwa zehn bis zwölf Gänge pro Abend. Seine technischen Fertigkeiten holte sich Riederer bei mehreren Dreisternköchen, bei denen er voluntierte.

Er verzichtet völlig auf Luxusprodukte und serviert stattdessen Gerichte wie seinen „Acker- und Wiesenspaziergang", ein Kartoffelparfait mit Kartoffel-Kräutercreme, Urkarotten, Wiesenpilzen, Sauerklee, Algenknospen und einem Nuss-Himbeeressigdressing - aber das kann morgen schon wieder ganz anders aussehen.

Der Erfolg gibt T.O.M. recht, an den Wochenenden ist das Lokal oft monatelang ausreserviert. Dennoch denkt er an die Verlegung des Restaurants an einen noch pittoreskeren Ort. Vor kurzem fand Riederer ein altes, gotisches Pfarrhaus in St.Andrä-Höch, das er, wohl 2014, in ein Restaurant mit angeschlossenem Hotel verwandeln wird. Am alten Ort soll dann sein Sous-Chef Manuel Liepert, ein Schüler von Andreas Caminada, übernehmen.

Die Süd-Ost-Steiermark, die etwa eine Autostunde östlich von Leutschach beginnt, steht seit jeher etwas im Schatten der Südsteiermark, auch wenn die Landschaft mit ihren Vulkankegeln aus dem Miozän und Pliozän ähnlich spektakulär ist und nicht nur über die am wildesten gelegene Burg Österreichs, die Riegersburg, sondern auch über erstaunliche kulinarische Angebote verfügt.

Die beiden Pioniere Alois Gölles, der Schnaps und grandiosen Fruchtessig produziert, und Josef Zotter, dessen Bio-Schokoladefabrik bei der Riegersburg pro Jahr sagenhafte 250.000 Besucher anzieht, haben den Landstrich kulinarisch definiert, Gölles hat ihm mit dem „Genusshotel Riegersburg" ein bitter nötiges Stück Infrastruktur an bevorzugter Stelle hinzugefügt. Aber die Glanzlichter setzen zwei junge Köche, die in unmittelbarer Nähe zueinander erstaunliche Küchenphilosophien etabliert haben.

Wenn Harald Irka nach dem Service aus der Küche der „Saziani Stub'n" schlendert, wirkt er auf sympathische Weise deplaziert. Seine langen, schwarzen Haare sind schräg aus der Stirn frisiert und werden von einer roten Baseballmütze in Form gehalten. Das Restaurants ist in einem rustikalen, wenn auch schick überholten Winzerhaus untergebracht, und Harald Irka ist maximal so rustikal wie ein iPod von Apple, auf dem zufällig Countrymusik läuft. Es ist das Verdienst des Patrons Albert Neumeister, dass mit dem 21jährigen Irka ein Küchenchef für den kulinarischen Grundton der Saziani Stub'n sorgt, der keine anderen Referenzen nach Straden mitbrachte, als überzeugend zu sein.

Irka heuerte zu einem schwierigen Zeitpunkt an. Gerhard Fuchs, siehe oben, war 2007 nach vier erfolgreichen Jahren zum Kreuzwirt auf den Pössnitzberg gewechselt, und die Neumeisters sahen sich ziemlich unmittelbar mit den Auswirkungen der Krise konfrontiert. Das Restaurant hing durch. Irka, ein Linzer, entwickelte inzwischen merkwürdige Kreationen, zum Beispiel Desserts, in denen er Fenchel, rote Bete oder Petersilie verarbeitete. Der Patron stutzte - und war begeistert von soviel Modernität und Gefühl.

Stichwort Gemüse: Anna Neumeister ist seit 30 Jahren Vegetarierin. Sie motivierte „den Harald" zusätzlich, sich leichte, spezielle Gerichte auszudenken, die einen starken Kontrast zur fleischlastigen, deftigen Hausmannskost der Südoststeiermark darstellen. Als schließlich das Engagement eines neuen Kochs fällig war, fragte Albert Neumeister den talentierten Harald, ob er sich auch den Posten des Küchenchefs zutraue, und der Harald,19, sagte, okay, ich mach's. Man holte sich Anregungen in Skandinavien, und als es Zeit wurde, die erste Speisekarte zu schreiben, hatte Harald Irka, wie er sagte, bereits „tausend Rezepte" auf seinem Laptop - ein Echo dieses Reichtums findet sich im virtuosen Reduktionismus der beiden Sechsgang-Menüs, des „erdigen" und des „grünen", wo auf verschiedenen Grundtönen die Aromen exakt definiert und souverän kombiniert werden.

Grün: Eine gelierte Gurke mit Buttermilch, Lardo, Johannisbeerblättern, Borretschblüten und Dillöl. Erdig: Die eingelegte und marinierte rote Rübe mit geraspeltem Süßholz (kein Witz!), geschmorter Rübe, Senfeis, Steinpilzöl, Schilcheressig und Rosenaromen. Es folgen Gänge mit marinierten Flußkrebsen, mit sautiertem Kalbsbries und mit Zitronenmousse mit Verjus (grün), mit (der Hammer!) roher Bachforelle, gedämpftem Spinat und gegrillten und confierten Stücken vom steirischen Huhn (erdig). Am Schluss, wie nicht anders zu erwarten, die Gemüsedesserts, vom Fenchel (grün) oder von der Petersilie (erdig). Grandios.

Erstaunlich an dem Programm ist nicht nur, wie präzis und leicht Irka kocht, sondern dass sich minimalistische Spitzenküche abseits einer echten Großstadt so konsequent durchsetzen lässt, was sehr für das Beharrungsvermögen des Patrons spricht. Das Steigerungspotenzial liegt in der Weinbegleitung, die hauptsächlich aus dem hauseigenen Weingut bestückt wird, das für das Sphärische der Küche Irkas allerdings nicht immer passend ausgestattet ist.

Nur zehn Kilometer entfernt arbeitet in Trautmannsdorf ein junger Mann in der Küche des „Steirawirt", der auch erst 28, aber im Vergleich zu Irka schon fast ein Veteran ist. Richard Rauch führt mit seiner Schwester Sonja das Wirtshaus mit angeschlossener Metzgerei, und schafft dort, in durchwegs rustikalem Ambiente - wer in die Steiermark reist und keine Trachten mag, ist sowieso auf dem falschen Dampfer - den Spagat zwischen anspruchsvoller Wirtshaus- und avancierter Spitzenküche.

Rauch ist ein heiterer, sympathischer Mann mit witzigen Einfällen. Zum Beispiel serviert er ein stilisiertes, mit Käseschaum gefülltes Murnockerl - so heißen umgangssprachlich die ans Ufer des steirischen Hauptflusses geschwemmten Kieselsteine - auf einem Bett von echten Steinen. Er setzt ein köstliches Gurkenmacaron mit Bärlauchcreme und Citrus-Kaviar auf einen Ölpresskuchen, die gepressten Rückstände, die in einer Kürbiskernmühle anfallen (damit hat es sich auch schon mit Kernöl, zum Glück). Es folgen aufwändige, kleine Gerichte wie Maibocktartar im Veilchenkrokant oder eine „Zigarre" aus Filoteig mit fein gewürztem Saiblingstartar, bis es schließlich in die Vollen geht, Höhepunkte: der Karpfen mit brillant abgeschmeckten Kohlrabi und das Herz und Bries vom Kalb.

Rauch geht dabei beim Würzen und beim Portionieren an die Grenzen, ein interessanter Kontrast zum Minimalismus der „Saziani Stub'n". Und eine weitere Klangfarbe im kulinarischen Konzert des österreichischen Südens. Dass der Süden und der Südosten der Steiermark kulinarische Destinationen sind, steht fast auf jedem Straßenschild. Aber noch nie war damit eine solche Vielfalt gemeint. Was deftig und vordergründig begonnen hat, wird in der Steiermark inzwischen fein, elegant, manchmal revolutionär weiterinterpretiert.

Das Land hat sich, kein Zweifel, in eine kulinarische Weltlandschaft verwandelt.