Standpunkt Nr. 4

Gedanken zum Besuch von Mads Kleppe, Head Sommelier des Noma Kopenhagen in Bern

Von Severin Aegerter

„Weshalb würdet ihr ohne zu zögern den trüben, unfiltrierten Apfelsaft dem klaren, geschönten und filtrierten vorziehen, beim Wein aber verhält es sich genau umgekehrt?“ Mads Kleppe liess diese Frage im Raum stehen. Der Sommelier des aktuell einflussreichsten Restaurants der Welt präsentierte in Bern fünf Weine, die stellvertretend für die Weinkultur des Noma stehen. Keiner dieser Weine wurde geschönt oder gefiltert und keinem dieser Weine wurde während der Weinbereitung eine chemische Substanz zugesetzt, weder Enzyme noch Schwefel. Weshalb prägen solche Weine auf eine selbstverständliche Weise den Alltag des Noma und der geschlossenen Fraktion der Kopenhagener oder gar der Skandinavischen Spitzenrestaurants? Wieso fristen solche Weine zeitgleich im Angebot der heimischen Spitzengastronomie eine Statistenrolle oder höchstens jene des spannenden Exoten? Diese Fragen stellen sich rund 70 Sommeliers und Gastronomen aus der gesamten Schweiz anlässlich des Netzwerkabends mit Mads Kleppe im Kursaal Bern.

Die Geschichte

Innert 10 Jahren ist Kopenhagen aus dem Nichts zum Mekka der Gastrokulturreisenden emporgestiegen. Diese rasante Entwicklung begann bezeichnenderweise in einer Zeit, in der einige hochdekorierte Restaurants dieser Welt mit ihrer 80-er-Jahre-Ästhetik und den von Hummer und Foie Gras dominierten Gerichten bereits leicht verstaubt wirkten. Parallel begann man in der Weinwelt die hochgejubelten und überteuerten Techniktropfen zu hinterfragen. In dieser Zeit suchten ein paar Skandinavier, unter ihnen René Redzepi, Mitbegründer und Chef des Noma, nach einer neuen Identität und Interpretation von Spitzengastronomie. Eine Form, die im Kontrast zur Entfremdung und Künstlichkeit vieler etablierter Gastrotempel stand und vor allem einen Bezug zur heutigen Zeit herstellen sollte. Küche und Wein sollen eng mit einem Ort verbunden sein und dessen Herkunft widerspiegeln sowie kulturelle Werte transportieren und vermitteln. Mit der erstmaligen Ernennung zum besten Restaurant der Welt 2010 durch die Fachzeitschrift Restaurant Magazine startete vom Noma ausgehend eine weltweite Bewegung, eine Art Revolution in der Spitzengastronomie. Dass in der Schweiz, in Deutschland aber auch in Österreich nach wie vor die „klassischen“ Muster in der Spitzengastronomie und in der Weinwelt dominieren, hat zu einem gewichtigen Teil mit Konservatismus zu tun. Erhaltend und bewahrend halten wir jene Werte hoch, die wir jahrelang proklamiert und (zu) teuer verkauften. So bedarf es denn wahrscheinlich auch einer unbelasteten, unabhängigen und kosmopolitisch agierenden Generation, damit auch in unseren Gefilden ein Umbruch in der Spitzengastronomie und im Weinmarkt stattfindet.

Der Standpunkt

Die Weinselektion von Mads Kleppe für die Präsentation in Bern basiert auf dem gleichen Prinzip: Die Weine stammen alle aus Kleinstproduktionen und von Winzern, die durch oder in Anlehnung an die Biodynamie einen weitgehend chemikalienfreien Weinbau betreiben. Die Weinberge werden karg bewirtschaftet, die Erträge fallen gering aus und die phenolische Reife der Trauben tritt verhältnismässig früh ein. Die Grundlage der Weine bildet ein reifes, extraktreiches Traubengut mit verhältnismässig tiefem Zuckergehalt. Im Keller wird auf Filtration und Schönung verzichtet, Holz wird höchstens als Gebinde, nicht aber als Aromaspender angesehen. Falls möglich, wird gänzlich auf die Zugabe von Schwefel verzichtet. Der Savagnin der Domaine de la Loue aus dem Französischen Jura ist der am wenigsten fordernde Wein. Frisch und hochmineralisch spannt sich der in der Kontur glasklare Wein in die Länge. Der Cuvée d‘Alexandria aus Muscat d’Alexandrie von Matassa besticht als Wein aus den Französischen Pyrenäen mit einem weichen aber omnipräsenten Säurespiel. Was in der Champagne lange für unmöglich galt: der Concordance Extra Brut von Marie Courtin wurde ohne Zugabe von Schwefel abgefüllt. Salzig, reif und vielschichtig präsentiert sich der Wein aus dem 2,5 Hektaren kleinen Weingut aus Polisot. Himmel auf Erden, die Scheuerrebe von Christian Tschida spaltet die Geister. Eine leichte primäre Oxidation legt sich über den Wein, trotzdem zeigt sich die Kontur präzise und richtungsweisend. Den Rosso Fanino Serragghia von Giotto Bini aus Pantelleria haben wir versehentlich dekantiert, was diesem Wein nicht bekommen ist. Der zarte Rotwein oxidierte auf der Stelle und ein dominierender Mäuselton legte sich kaschierend über das Getränk (Entschuldigung Mads, du hast uns im Vorfeld darauf hingewiesen). Direkt aus der Flasche zieht einem dieser Wein mit einer geradezu elektrisierende Frische und Leichtigkeit in seinen Bann. Ein unvergleichliches überraschendes Trinkerlebnis für einen Wein aus dem südlichsten Punkt Italiens. All diese Weine haben sie ihre Eigenheit, ihren Charakter und je nach Standpunkt ihre Irritationen. Hier ein Schuss flüchtige Säure vielleicht, da eine leichte Mostnote, die zusehends in den Hintergrund tritt. Da ein schwacher Mäuselton, der sich mit zunehmender Belüftung akzentuierte. Wie man das empfindet und bewertet ist individuell. Die einen fühlen sich in ihrem ästhetischen Empfinden wohl inmitten einer mäandrierenden, unberechenbaren Flusslandschaft, einem scheinbaren Chaos oder je nach Betrachtung einer zufälligen Ordnung. Die anderen bevorzugen den kanalisierten und kontrollierten Wasserlauf. Das konzipierte Landschaftsbild oder die Gartenanlage, die ein bestimmtes ästhetisches Prinzip verfolgt und beliebig adaptierbar ist. Dieses Empfinden ist eine Frage des ästhetischen Bewusstseins, der eigenen Empfindung und des eigenen Standpunktes.

Die Bekömmlichkeit

Mads Kleppe sitzt mittags an einem ausladenden Tisch, der übersät ist von offenen Flaschen, zu viele um sie zu bewältigen und erklärt die Vielfalt an interessanten Weinen aus Europa auf dem Japanischen Markt. „Die Japaner sind durch die ausserordentlich hohe Qualität der Lebensmittel, die sie im Alltag umgeben sowie durch den verhältnismässig kleinen Anteil an industriellen Produkten in der Lage, auf hohem Niveau zu verkosten und zu schmecken. Ihre Sensibilität für Bekömmlichkeit und die hohe Bildung ihres Geschmacksinns führt sie zu den hochstehenden Weinen.“ Von einigen Weinen probiert Mads, von den anderen trinkt er beherzt. Im Gegensatz zum ästhetischen Empfinden ist die Bekömmlichkeit im Wein keine Frage des Standpunktes. Die Bekömmlichkeit ist absolut. Der Körper bevorzugt Weine, die ohne Zugabe von Schwefel auskommen. Weine mit tieferem Schwefelgehalt sind bekömmlicher als dieselben Weine mit höherer Schwefelkonzentration. Weine aus reifem Traubengut mit weniger Alkohol sind ebenfalls bekömmlicher als Weine mit höherem Alkoholgehalt. Konfrontiert man sich einmal bewusst mit der Ebene der Bekömmlichkeit, werden gewisse Weine nahezu untrinkbar. Welche Rolle hier den zahlreichen chemischen Additiven zukommt, denen sich die Industrie bedient, kann nur vermutet werden und ist ein offenes und dringliches Forschungsfeld. Es gibt jedoch ein nicht korrumpierbares Prinzip: Was sich leicht trinkt, geht einher mit guter Qualität und umgekehrt. Für Mads Kleppe und das Noma ist die Ebene der Bekömmlichkeit zentrales Selektionskriterium im Wein. Etliche Winzer wurden von Mads dazu animiert, ihre Weine für das Noma ohne Zugabe von Schwefel abzufüllen. Das mag für das Noma richtig sein. Die Weine werden in gekühlten Container transportiert und ausschliesslich im Nomakeller unter perfekten klimatischen Konditionen gelagert. Sämtliche Weine werden mit hoher fachlicher Kompetenz ausgeschenkt – das sind perfekte Voraussetzungen, um sich mit Weinen am Limit zu bewegen. Wie fragil es sich verhält, zeigt der Absturz des Rosso Fanino Serragghia nach dem Fehler im Handling. Und irgendwann stellt sich dann auch die Frage nach dem Standpunkt nicht mehr, denn Weine mit wenig Schwefel sind um Längen besser und bekömmlicher als schwefelfreie, die nur noch nach Essig oder feuchtem Karton schmecken.