Standpunkt Nr. 6

Interview mit Pierre Overnoy

geführt von Lukas Frey und Severin Aegerter, Juni 2015

Als Sie das elterliche Gut in den 60-er Jahren übernommen haben, wie sah damals der Weinbau im Jura aus im Vergleich zu heute.

Um die Entwicklung der Maison Overnoy verstehen zu können, lohnt sich ein Blick zurück in die Geschichte und Entwicklung des Weinbaus im Jura, denn unser Familienbetrieb illustriert dies in meinen Augen recht gut und ist typisch für die Region. Nach den Verwüstungen der teilweise jahrhundertealten Rebberge durch die Reblaus waren die meisten Betriebe gezwungen, als Mischbetriebe ihre Produktion zu diversifizieren. Man baute zwar noch Wein an, hatte aber ein Standbein in der Vieh- und teilweise auch in der Forstwirtschaft. Da die Reblausschäden zwischen 1930 und 1933 vier Ernten komplett ausfallen liessen, brachen auch etablierte Verkaufskanäle und Kunden weg, was die ökonomische Basis der Betriebe zusätzlich erschütterte. Den Mischbetrieb meiner Grosseltern und Eltern muss man daher in diesem Licht sehen. Praktisch alle produzierten damals in ähnlichen Strukturen. Mit der Übernahme des elterlichen Betriebes haben wir dann jedoch die Produktionszweige unter den Geschwistern aufgeteilt. Mein Bruder übernahm den Landwirtschaftszweig und ich übernahm den Weinbau.

Haben Sie damals Dinge bewusst verändert im Betrieb?

1964 machte ich ein Praktikum in Beaune und wurde dabei mit dem konfrontiert, was als das Mass der Dinge des damaligen sogenannt modernen Weinbaus galt. Ich machte mich mit den Techniken vertraut, die insbesondere in Kelterung und Kellerarbeit propagiert wurden. Zurück zu Hause begann ich, das Gelernte anzuwenden und mit den empfohlenen Kellertechniken zu arbeiten. Aber ich war rundum enttäuscht: Wenn ich in den Keller kam und meine Nase in einen Gärbottich oder in ein Fass hielt, waren die Düfte und Geschmacksnoten stumpf, simpel und nach meinem Empfinden nicht mehr fein. Was ich früher auf dem elterlichen Betrieb zu riechen und zu schmecken gewohnt war, fehlte komplett.

Ich habe mich in dieser Zeit intensiv mit Jules Chauvet, Beaujolais-Winzer, Chemiker und aus heutiger Sicht eigentlicher Vater des chemikalienfreien Reb- und Weinbaus auseinandergesetzt und ausgetauscht. Dabei wurde mir klar, dass die modernen Hilfsmittel und Kellertechniken, insbesondere der Einsatz von Reinzuchthefen und Schwefel, die Aromatik des Weins massiv limitieren und verändern. Ich wurde mir bewusst, dass das Sicherheitsdenken, wie es in der damals modernen und zunehmend industrialisierten Weinbereitung Einzug hielt, auf Kosten des Geschmacks geschah. Das wollte ich nicht, dieser Kompromiss hätte viel zu schwer gewogen. So habe ich den kurzen Irrweg im Zusammenhang mit meinem Praktikum in Beaune bereits 1966 wieder verlassen und kelterte seit da komplett schwefelfrei.

An wen konnten Sie sich wenden, wenn Sie Rat einholen mussten? Hatten Sie so etwas wie einen Mentor nebst der Familie? Wie hat man sich damals unter den Winzern ausgetauscht?

Wie gesagt: Die Inspirationen, die einleuchtenden Argumentationen und das wissenschaftliche Fundament holte ich mir bei Jules Chauvet. Aber in der Praxis waren wir in der damaligen Zeit bloss einige wenige Idealisten. Wir entsprachen in keiner Weise dem Zeitgeist der Modernität, man nannte uns gar Lügner, denn schwefelfreie Weinbereitung betrachtete man als nicht machbar und somit glaubte man unserem Bekenntnis nicht. Jedoch insbesondere im Beaujolais gab es eine kleine Gruppe von 3-4 Winzern, unter anderem Marcel Lapierre und Jean Foillard, mit denen ich mich regelmässig austauschen konnte, so dass wir uns auch gegenseitig in unseren eingeschlagenen Wegen bestärkten.

In den 60-er Jahren wurden Sie mit den Verlockungen und Arbeitserleichterungen der Chemischen Industrie konfrontiert. Was hat Sie davon abgehalten, Chemikalien im Rebbau und im Keller einzusetzen?

In dieser Zeit versuchte die Chemische Industrie, mit Aussendienstmitarbeitern die Winzer stark zu beeinflussen. Überall wurden Demonstrationen angeboten, wo insbesondere der Chemieeinsatz im Rebberg gezeigt wurde. Wenn normalerweise zwei Personen einen Rebberg während einer Woche vom Unkraut befreiten, konnte der Vertreter dem staunenden Publikum zeigen, wie seine Herbizide in einem 2-stündigen Arbeitsgang die gleiche Arbeit erledigen. Das überzeugte natürlich viele. Aber das sichtbare Resultat verbirgt dabei alle unsichtbaren und langfristigen Schäden: Die Mikroorganismen im Boden leiden, die Biodiversität und das systemische Gleichgewicht im Rebberg geht zurück, die Vielzahl an Hefen wird limitiert, das Grundwasser verliert an Qualität. Obwohl man uns als Verweigerer und Dinosauriere betitelte, war es auch unsere Angst, dass die Chemie mehr Schaden als Nutzen bringt, die uns davor abhielt, vermeintlichen Verlockungen zu erliegen.

Ich habe nie chemisch Unkraut vernichtet. Das war denn auch die Grundvoraussetzung, dass ich im Keller ohne Schwefel arbeiten konnte. Mir war bewusst, dass Wein nicht im Keller entsteht, sondern im Rebberg, gar im Boden. Das Leben des Babys beginnt auch nicht im Gebärsaal, sondern im Bauch der Mutter. Und dort, d.h. bereits in und mit der Mutter müssen logischerweise auch alle Anstrengungen ansetzen, ein möglichst gesundes Baby zu bekommen. Wenn der Wein gesund sein soll, muss das im Rebberg geschehen. Ist das geerntete Traubengut von maximaler Qualität und Gesundheit, wird der Wein im Keller von selber gut. Alle chemischen Zugaben im Keller sind Medikamente, die versuchen, ein krankes Traubengut zu heilen. Das kann ja nicht funktionieren!

Wenn man Unkraut chemisch vernichtet, zerstört man gleichzeitig einen Grossteil der Hefen – v.a. die guten und interessanten Hefen – und ermöglicht so, dass die schlechten Hefen Überhand nehmen. Zugleich wurzeln Rebstöcke in mit Herbiziden behandelten Rebbergen sehr viel oberflächlicher, was zu einer übermässigen Aufnahme von Kalium führt. Der pH-Wert des Traubenguts steigt stark an, was wiederum den Einsatz von Schwefel zur Sicherstellung der Stabilität notwendig macht.

Sicherlich war ich persönlich und von meinem Naturell her auch bereit, vermeintlich steinige Wege zu gehen. Denn als alleinstehender Mann, der keine Familie zu ernähren hatte, konnte ich auch gewisse finanzielle Risiken eingehen und musste mich nicht dem bereits erwähnten Sicherheitsdenken anschliessen, das die Vertreter der Chemischen Industrie uns Weinbauern zu verheissen versuchten.

Hatte der Zeitgeist jemals einen Einfluss auf Ihre Arbeit als Winzer oder in Ihrer ästhetischen Definition von Wein?

Der Zeitgeist ist ja auch ein Teil des Kontextes, in dem wir uns bewegen und indem wir leben. Er verändert sich laufend. Man kann mitschwimmen, ihn aufnehmen oder dagegenhalten. Oder ihn ignorieren, selbst wenn man von aussen betrachtet dem Zeitgeist entspricht. Ich betrieb einen Weinbau entsprechend meiner Überzeugungen. Die Lagerfähigkeit meiner Weine bestätigt meine Überzeugung. Wenn ein 40-jähriger Wein eine Frische zeigt, die selbst vielen jungen Weinen abgeht, brauche ich keine weiteren Erklärungsversuche.

Wenn Sie Ihre Anfangszeit mit derjenigen eines jungen Winzers wie Etienne Thiébaud vergleichen, sind die Voraussetzungen heute gänzlich unterschiedlich?

Die heutigen Winzer wissen, dass es möglich ist, Weine ohne jegliche Chemie zu keltern. Das ist natürlich eine andere Ausgangslage, die Sicherheit gibt und junge Winzer bestärkt. Im heutigen Bewusstsein spielt die Natur eine grössere Rolle, wenngleich viele und vieles eher einer Logik des Marketings folgen und keine echte Auseinandersetzung in der Tiefe und Breite des Themas und mit allen Konsequenzen führen. So gibt es natürlich einige Produzenten, die im Rebberg auf den Einsatz von Chemie verzichten, bloss um Öko-Subventionen beziehen zu können. Aber eine wachsende Anzahl Winzer und Konsumenten ist sich der negativen Auswirkungen der Irrwege in der Landwirtschaft bewusst und versucht einen alternativen Weg zu begehen.

Etienne Thiébaud ist ein Quereinsteiger. Wären Weine wie er Sie heute keltert überhaupt möglich, wenn es Sie und andere Vordenker im Jura nicht gegeben hätte?

Etienne Thiébaud gehört zu meinen bevorzugten Winzern der heutigen Generation. Aber er geht seinen Weg in seiner Zeit und mit seinem Umfeld. Der Austausch erfolgt heute vielmehr zwischen den Jungen, als von den Alten zu den Jungen. Die heutigen Diskurse sind breiter, tiefer und weitergehender als vor 50 Jahren. Auch reisen die heutigen Winzer viel mehr, besuchen sich gegenseitig und tauschen Erfahrungen aus. Aber eben: Die heutigen Winzer wissen, dass chemikalienfreier Weinbau möglich ist. Für derartige Erkenntnisse war ich bestenfalls Bindeglied von der einen zur anderen Generation. Das ist nicht Bescheidenheit meinerseits, sondern einfach realistisch. Alles in allem vermute ich, dass diese neue Generation sehr weit kommen wird.

Welchen Stellenwert hat die Tradition in der Weinkultur aus Ihrer Sicht?

Einerseits kann man Wissen tradieren, von einer Generation zur nächsten übergeben. Das ist unbestritten sehr wichtig. Denn wenn ich mit über 80 Jahren sterben werde, weiss ich, dass ich zwar nur sehr wenig weiss, dies aber bestmöglich weitergegeben haben werden. So wie ich die Vorleistungen früherer Generationen mitbekommen habe, habe ich den Betrieb an meinen ehemaligen Praktikanten und langjährigen Mitarbeiter Emmanuel Huillon übergeben. Die Übergabe des Wissens erfolgte über all die Jahre der Zusammenarbeit.

Heute ist mir ein grosses Anliegen, dass Geschmack und wahre Qualität von Produkten tradiert werden können. Wer weiss heute noch, was ein gutes Huhn ist, wie ein gutes Poulet schmeckt? Heute macht uns das homogenisierte Angebot der Agroindustrie und der Lebensmittelindustrie mitsamt den Verkaufskanälen und dem Marketing in Supermärkten zu glauben, ihr jeweiliges Angebot sei Qualität. Die Monopole verhindern, dass die Leute Qualitäten vergleichen können. Meine Hühner hört man gackern. Meine Bienen sammeln Honig und das Brot backen wir wöchentlich. Wenn man somit heute nicht das Privileg hat, Qualität erfahren zu dürfen und somit Geschmack kennen zu können, weiss man nicht, was gut ist. Das sind kulturelle Werte, die stark bedroht sind und verlorenzugehen drohen. Den Geschmack guter Qualität zu tradieren ist essentiell und dafür kämpfe ich.

Wie charakterisieren Sie die Weinregion des Französischen Juras?

Der Französische Jura war lange Zeit – und vermutlich ist er es auch heute noch – weniger durch die Chemie zerstört als andere Weinbauregionen Frankreichs. Denn die hier gezwungenermassen in Mischbetrieben produzierenden Bauern und Winzer setzten die Chemie zurückhaltender und langsamer ein, als dies in Betrieben in Regionen mit Rebbau als Monokultur geschah. Zudem haben viele Winzer, ich eingeschlossen, Neupflanzungen auf Parzellen machen können, die bereits vor der Reblaus mit Reben bestockt waren – was ein grosser Vorteil ist. Davon können wir hier im Jura heute natürlich zusätzlich profitieren. Zudem ist der natürliche Reichtum dieser im Vergleich sehr kleinen Region sehr hoch. Aufgrund der landschaftlichen und natürlichen Diversität, wo sich Weiden, Wälder, Hecken und Rebberge in kleiner Gliederung abwechseln, konnte sich auch nie eine Monokultur aus Reben entwickeln.

Welche Vorzüge oder Besonderheiten sollte ein Wein transportieren, wenn er Sie berühren soll?

Ein grosser Wein ist ein Wein mit einer grossen Komplexität. Wenn man mit Schwefel arbeitet, tötet man die einfachen Hefen ab und bewirkt eine aromatische Auswahl, ein Verlust an Komplexität. Für mich müssen alle Hefen arbeiten können. Daraus resultiert aromatische und degustative Komplexität.

Der Alkoholgehalt ist ein uninteressanter Aspekt des Weins. Einen geringen Alkoholgehalt gleichzusetzen mit einem kleinen Wein ist absurd. Solange der Alkohol natürlicherweise entsteht, ist es das eine. Wenn er jedoch mit Chapitalisation verstärkt wird, ist er uninteressant.

Ebenso bedeutet Länge per se noch gar nichts. Man muss die Qualität der Länge betrachten. Chemieeinsatz kann zu Weinen mit grosser Länge führen, aber wenn schlechte Geschmäcker lange im Mund nachhallen, ist das uninteressant oder gar schlecht. Die Chemie merkt man zudem erst am Ende, denn zu Beginn, beim Erstkontakt im Mund, sind die meisten Weine noch schnell mal gut.

Ästhetisch gesehen muss ein guter Wein komplex und gleichzeitig harmonisch sein. Damit meine ich nicht den überstrapazierten Begriff des Gleichgewichts. Wenn eine Floristin einen Blumenstrauss zusammenstellt und drei rote, drei blaue, drei gelbe, drei grüne und drei weisse Blumen zusammenbindet, mag das als Gleichgewicht angesehen werden. Dem Blumenstrauss fehlt die Harmonie vermutlich jedoch komplett, denn er ist schrill. Zwar ausgewogen aber nicht harmonisch. Komplexe Harmonie ist mein primäres ästhetisches Kriterium.

Aber eigentlich rede ich gar nicht so gern über Wein. Denn als es noch Wein gab, redete man auch nicht darüber. Nur heute, wo es kaum mehr Wein gibt, redet man andauernd darüber. Ein guter Wein soll Nahrungsmittel sein und uns gut tun. Der Körper spürt das sehr genau, so wie er eigentlich auch spürt, was ungesund ist.