Cidre

Interview mit Jacques Perritaz

Interview mit Jacques Perritaz

Treyvaux, 9.8.2019

Jacques Perritaz, deine ersten Versuche, Äpfel zu Cidre zu verarbeiten, liegen rund 20 Jahre zurück. Was hat dich dazu inspiriert?

Als Biologe war ich zu dieser Zeit persönlich auf der Suche nach etwas Neuem. Ich hatte Lust, Wein zu machen, absolvierte mehrere Praktika bei Winzern, wollte die Prozesse der Vinifikation kennenlernen. Aber in meiner Heimatregion, dem voralpinen Freiburger Hinterland, gedeihen keine Reben. Hier wachsen Äpfel. Und so kam es, wie es kommen musste: Irgendwann im Dezember fuhr ich mit meinem Auto im Niemandsland an einem Baum vorbei, ich musste anhalten und war sogleich verzaubert. Der Baum hatte all seine Blätter bereits verloren, war aber über und über behängt mit kleinen, feuerroten Äpfeln. Dieser Anblick faszinierte und inspirierte mich umgehend. Ich konnte die Äpfel pflücken – eine gänzlich unbekannte namenlose Sorte übrigens, hocharomatisch, säuerlich, unglaublich – und machte daraus eine Cuvée. Diese knapp 200 Flaschen meines ersten Cidres «La Rose de Torny» waren der eigentliche Startschuss.

Niemand hat in der Schweiz auf hochwertigen Apfelwein gewartet, und das Verständnis für deine Produkte war hier einfach nicht da. Was gab dir die Gewissheit, dass deine Weine trotzdem eine Berechtigung haben?

Noch arbeitete ich in den ersten Jahren meiner Cidre-Produktion als freischaffender Biologe und verdiente so meinen Lebensunterhalt, gleichzeitig träumte ich aber von einer genügend grossen Produktion, um davon auch leben zu können. Ich war getrieben von meiner Leidenschaft, hatte keinen Businessplan, legte einfach los. Vielleicht war das blauäugig, aber ich war immer überzeugt, dass die Erzeugnisse gut sind.

Der Export deines Cidres war die eigentliche Rettung deiner Vision und deines Projektes. Noch heute exportierst du ¾ deiner Produktion in 30 verschiedene Länder, während sich der Markt in der Schweiz eher zögerlich entwickelt. Wie erklärst du dir diese Situation und die Zurückhaltung in einem Land, in dem der hochstämmige Apfelbaum und die Streuobstwiese das Kulturland prägen?

Bei uns gibt es keine eigentliche Cidre-Kultur. Obwohl sich langsam etwas zu bewegen beginnt, ist Cidre nach wie vor ein Nischenprodukt. Zwar kennt man insbesondere in der Welschschweiz die Cidres aus der Normandie. In den Ferien in der Bretagne kaufen die Leute im Supermarkt Cidre für 3 Euro. Zurück in der Heimat sind sie dann aber selten in der Lage, artisanalen Cidre vom industriell hergestellten sauren Most zu unterscheiden und sind dementsprechend auch bloss selten bereit, den adäquaten Preis für einen artisanalen Cidre zu bezahlen. Die Leute sind der Meinung, Cidre könne nicht teurer sein als ein Bier aus einer Kleinbrauerei.


Du hattest keine Kollegen in der Schweiz, mit denen du dich austauschen konntest, und die Fachhochschulen lehrten ausschliesslich die Verarbeitung der Weintraube. Hast du dir dein Wissen selber angeeignet oder konntest du dich schon früh mit anderen Cidrerien vernetzten?

Ich habe mich von Anbeginn weg mit erfahrenen Cidre-Produzenten im Ausland vernetzt. Insbesondere Eric Bordelet war und ist für mich eine Schlüsselfigur. Er hat mir nie ein Rezept oder konkrete Anleitungen gegeben, sondern mich darin bestärkt, degustativ auf die Cidres einzugehen, mich intuitiv und emotional von den Degustationserfahrungen leiten zu lassen. Ich schöpfe somit sehr viel aus meinen Produkten, die allesamt Originale sind, allesamt ihre Eigenheiten haben und allesamt etwas mitzuteilen vermögen. Und obwohl ich eigentlich ein Einzelkämpfer bin, fühlte ich mich nie alleingelassen.


Welches waren die grössten Schwierigkeiten in der Anfangszeit?

In den ersten Jahren steckte ich in einer klassischen Situation, wo ich ein kommerziell noch vollkommen uninteressantes Projekt verfolgte und gleichzeitig eine Familie mit Kindern zu unterhalten hatte, so dass ich weiterhin als Biologe arbeiten musste und aber meiner Herzensangelegenheit nicht zufriedenstellend genug nachgehen konnte. Parallel dazu hatte ich erhebliche Anfangsinvestitionen in Infrastruktur, Maschinen und Gebäude zu stemmen. Innerhalb der eigentlichen Cidre-Produktion war die fehlende Erfahrung mein Hauptproblem. Ich konnte nicht von einem langjährigen Erfahrungsschatz profitieren, sondern musste aus Fehlern lernen, was hart und aber lehrreich zugleich war. Lerneffekte brauchen aber oftmals mehrere Jahre, da das Lernobjekt ein Naturprodukt ist, das sich nur sehr langsam und zudem zyklisch entwickelt.


Einer der positiven Aspekte der Subvention der hiesigen Landwirtschaft sind die vielen noch existierenden hochstämmigen Apfelbäume und die Vielzahl an alten Varietäten. War es immer einfach für dich, interessante Äpfel und Birnen zu bekommen?

Zu Beginn war meine Produktion wie gesagt sehr überschaubar und so war es auch nicht sonderlich aufwändig, zur notwendigen Menge an Äpfeln und Birnen zu kommen. Ich habe nach wie vor eine Reihe von stillschweigenden Abmachungen mit Bauern, die mir ihre Äpfel überlassen oder verkaufen. Aber die Zahl der interessanten Bäume nimmt kontinuierlich ab, einerseits werden sie alt und sterben ab, oder aber der Druck der intensivierten Landwirtschaft oder des Baulandhungers nimmt zu, so dass parallel zu meinem gesteigerten Mengenbedarf auch das Angebot an Bäumen, die Sortendiversität und schliesslich die Menge an für mich interessanten Äpfeln abnimmt. Eine zeitintensive Suche nach verborgenen Apfelbäumen kann ich heute leider nicht mehr auf mich nehmen und so ist es für mich ein Glücksfall, dass ich inzwischen rund 40% meines Mengenbedarfs durch zwei Produzenten alter Mostobstsorten im Thurgau decken kann. Zusätzlich habe ich eine eigene Streuobstwiese angelegt, und von meinen selbstgepflanzten Bäumen kann ich inzwischen bereits rund 10-15% meines Obstbedarfs decken.

Dein Betrieb ist auf die Zusammenarbeit und die Kooperation mit Bauern und Besitzern von Streuobstwiesen angewiesen. Wie gestalten sich diese Beziehungen? Zählt für den Bauern eher die zusätzliche Einnahmequelle oder der Stolz und der Umstand, dass ihre Äpfel zu einem qualitativ hochstehenden Erzeugnis verarbeitet werden?

Die Beziehungen zu den Bauern sind langfristig, verlässlich, aber halt auch informell und fragil. Solange es für den Bauer ökonomisch irgendwie noch Sinn macht, hat er ein Interesse, mir seine Äpfel zu verkaufen. Ich bezahle im Vergleich zu einer normalen Mosterei den deutlich besseren Preis – und drum bekomme ich die Äpfel. Es gibt ein paar Ausnahmen, wo ich spüre, dass es den Bauer freut, seine Äpfel in einem aussergewöhnlichen Produkt wieder zu finden.


Kommen wir zum Wein. Viele sind sich der Qualitätsunterschiede bei Weinen aus Trauben bewusst und sind bereit, für eine gute Qualität auch mehr zu bezahlen. Anders verhält es sich bei Erzeugnissen aus Äpfeln und Birnen. Weshalb lohnt es sich, 20.- und mehr für einen Wein aus Äpfeln oder Birnen auszugeben?

Zwar ist es einiges einfacher, Äpfel statt Weintrauben zu produzieren. Aber im Keller werden die unterschiedlichen Anforderungen dann kleiner: Die Infrastruktur ist ähnlich, die Handarbeit ist die gleiche, der Aufwand ist vergleichbar, Risiken gibt’s bei einem Naturprodukt in jedem Fall, selbst ein Totalausfall ist nicht auszuschliessen. Solange einer breiteren Konsumentenschaft bestenfalls industriell produzierte Billig-Cidres bekannt sind, müssten wir besser zu erklären versuchen, was für ein Produktionsaufwand artisanalen Cidres zu Grunde liegt. Glücklicherweise wächst dieses Bewusstsein und inzwischen gibt es eine gewisse Kundschaft, vor allem auch in urbaneren Zentren, die den Wert guter Cidres festzustellen fähig ist und den entsprechenden Preis auch zu bezahlen bereit ist.


Wo siehst du die Vorzüge bei Weinen aus Äpfeln und Birnen gegenüber den Weinen aus Trauben?

Cidres haben deutlich weniger Alkohol als Wein, und das ist ein nicht zu unterschätzendes Argument. In der innovativen Gastronomie wird zunehmend erkannt, dass Cidres im Rahmen von Weinbegleitungen zu einzelnen Gängen oder gar zu ganzen Menus ebenso spannende Erlebnisse bieten können, wie dies traditionell der Wein kann.


Welche Kriterien muss für dich ein kompletter Cidre erfüllen und zu welchen Gelegenheiten trinkst du Cidre?

Ich kann nicht einen idealtypischen Cidre beschreiben, aber bereits die unglaublich spannende Vielzahl von unterschiedlichen Cidres ist schon mal ein generelles Argument für dieses Getränk. Klar, Balance und Harmonie sind wichtig, aber ich mag auch Cidres, die ungewöhnlich oder überraschend sind, gewissermassen Ausreisser. Dann gibt es Kriterien, die unterschiedlich ausfallen je nach Grad der Restsüsse eines Cidres. Eine allgemeingültige Antwort gibt es für mich nicht.


Gibt es in der Komplexität aus deiner Sicht Limiten bei Cidre im Vergleich zu Weinen aus Trauben?

Ja, ein Cidre durchläuft weniger markante Entwicklungen, Schwankungen und Zyklen. Die Gerbstoffe sind weniger komplex. Die Tertiäraromen sind weniger ausgeprägt. Hingegen sind die laktischen, buttrigen, manchmal rauchigen Noten und oftmals auch die tropischen Fruchtaromen fantastisch. Das sind aber eher Sekundäraromen. Cidre hat nicht ganz all die Dimensionen, die grosse Weine zeigen können, aber man sollte auch nicht allzu viele Vergleiche ziehen wollen, sondern die Eigenständigkeit der Cidres in den Vordergrund rücken.


Welche Erfahrungen hast du mit der Lagerung und Reifung deiner Weine gemacht?

Es gibt gewisse Parallelen zum Wein. Einige Cidres brauchen viel Zeit, bis sie sich öffnen. Einzelne Poirés zum Beispiel werden erst nach 10 Jahren richtig interessant. Bei den Äpfeln wiederum dauert es in der Regel deutlich weniger lange, bis die Aromen offen sind. Ich trinke sie am liebsten nach 1-2 Jahren. Denn irgendwie finde ich es auch schade, wenn die freundliche, zugängliche Seite der fruchtbetonten Primäraromen verloren geht. Die Primäraromen sind beim Cidre zentral – alles weitere ist Zugabe. Man sollte nicht darauf setzen, dass sich die interessanten Aromen erst nach längerer Lagerung entwickeln.


Gehören aus deiner Sicht verschiedenen Cidre in eine komplette Weinkarte?

Innovative Sommeliers und grosse Chefs wollen vermehrt ihre Gäste mit einem Cidre überraschen, schenken im Rahmen einer Weinbegleitung ein Glas Cidre blind zu einem Gang aus – und haben damit in der Regel Erfolg. Oft beobachte ich, wie anschliessend an einen solchen Erstversuch dann ein paar Cidres in die Weinkarte integriert werden. Und langsam aber sicher gibt es Gäste, die von sich aus Cidre bestellen. Das sind die ersten Schritte, um eine Cidre-Kultur heranwachsen zu lassen.


Dein Weg mit der Cidrerie du Vulcain war oftmals steinig. Neue Projekte wie die Mosterei Oswald&Ruch dürften es heute bedeutend einfacher haben, Kunden zu finden. Macht dich dieser Umstand teilweise auch wehmütig?

Nein, es freut mich! Es zeigt mir, dass mein Projekt und meine Produkte die Leute zu inspirieren vermögen. Vor Konkurrenz habe ich keine Angst, das ist vielmehr bereichernd. Wir wollen schliesslich an einer Cidre-Kultur arbeiten. Und wenn ich dann junge, enthusiastische und sehr sorgfältig arbeitende – sagen wir – Neulinge kennen lerne, mit ihnen arbeiten kann, ihnen etwas weitergeben kann, dann macht mich das auch stolz. Vielleicht hatte ich in der Schweiz zwar eine Pionierrolle und die Neuen haben es teilweise bereits etwas einfacher, müssen nicht alle Fehler selber auch nochmals durchlaufen. Aber so wie Eric Bordelet mir keine fertigen Rezepte mitgab, sage auch ich diesen jungen Leuten: «Inspiriert euch selber, lernt die Materie umfassend kennen, macht euren eigenen Weg!».


Was wünschst du dir für den Cidre in Zukunft, besonderes in der Schweiz?

Persönlich möchte ich meine Produktion stabilisieren, indem ich meine eigene Streuobstwiese vergrössere, um weniger von Zulieferern abhängig zu sein. Zudem will ich vermehrt uralte Birnenvarietäten erhalten und pflegen. Im Rahmen eines Programms des Bundes zur Erhaltung der Sortenvielfalt konnte ich auf einer Obstwiese 260 verschiedenen Birnenvarietäten pflanzen, von jeder Varietät zwei Bäume. Wir haben in der Schweiz ein aussergewöhnliches Erbe an hunderten oftmals fast ausgestorbenen Obstsorten. Diese Obstkultur und die damit verbundene Biodiversität möchte ich mit neuen Cidres in Wert setzen. Ich wünschte mir, dass Obstgärten und Streuobstwiesen so wieder vermehrt angelegt werden, gepflegt werden und einen ökologischen, ökonomischen und kulturellen Wert haben. Dazu braucht es eine kleine, feine Wertschöpfungskette des Cidre, die sich organisiert, vernetzt, austauscht und schlagkräftig ist, vom Anbau interessanter Sorten bis hin zum Endkonsument unserer Cidres.