Der Jura

Wein in Sicht

Wein in Sicht

von Martin Jenni

Der Jura ist mehr als ein reizvoller Landstrich. Jura heissen gleich mehrere Gebirge und Landschaften. Jura heisst ein französisches Departement, der jüngste Schweizer Kanton, eine schottische Hebrideninsel, ein Kalkstein, ein Abschnitt des Erdmittelalters. Als nordöstlicher Ausläufer des Tafeljuras beginnt er im Kanton Schaffhausen. Aber mehr geologisch als emotional. Denn wer denkt schon am Rheinfall an den Jura? Eben.

Der Jura erzählt von verschlafenen Kleinstädten und eigenwilligen Winzern, von lauschigen Plätzen und grünen Landstrassen, von Flüssen und Quellen, von einer Wurst die Jésus de Morteau heisst, von Comté- und Vacherin-Käse, Wein und Marc. Als Reisender lässt sich der Jura locker zu Fuss, mit dem Fahrrad, dem Solex, der Vespa, oder mit dem Auto erkunden. Dabei wird die Grenze zwischen dem französischen und schweizerischen Jura unbedeutend. Für die heimischen Kühe sowieso, die sich um keine Grenzsteine kümmern, sondern das saftige Gras hüben wie drüben fressen. Erst bei der Verarbeitung der Milch zu Käse wiehert nicht die Kuh, sondern der Amtsschimmel. Die Franzosen stellen ihren Mont d’Or aus Rohmilch her, die Schweizer müssen die Milch thermisieren, dürfen ihren Vacherin Mont d’Or nicht mehr aus Rohmilch produzieren. Gut sind sie beide.

Zu den Weinen. Das Anbaugebiet erstreckt sich in der Linie Besançon-Lyon über 70 Kilometer am Westabhang der Juraberge. Es reicht nördlich von Arbois bis südlich von Lons-le-Saunier. Bei klarem Wetter sieht man von den höchstgelegenen Rebzeilen im Westen die burgundische Côte-d’Or, den Gegenhang der breiten Saône-Ebene. Diese Gegend ist ein reizvolles, kleinräumiges, vom Weinbau geprägtes Kulturland. Dazu kommen gut erhaltene kleine Stadtensembles und als landschaftliche Höhepunkte die beeindruckenden Talabschlüsse der Reculées mit ihren Höhlen und Wasserfällen. Die Region bleibt bis heute fast industriefrei, ohne grosse Durchgangsstrassen, selbst die grossflächigen Super-, Mega- und Hypermärkte der französischen Provinz sind rar.
Etwa 100 vor Christus ist im Jura der Weinbau schriftlich erwähnt. Im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit war der Jura-Wein sehr gefragt. Mit der Reblaus kam der Niedergang. Standen Ende des 19. Jahrhunderts fast 20’000 Hektar unter Reben, so sind es heute noch knapp 2’000 Hektar. Das kleine Weinbaugebiet (etwas mehr als ein Prozent der französischen Ernte) zeichnet sich durch bemerkenswerte, manchmal nur hier angebaute Rebsorten und Weinspezialitäten aus. Zu meinen bevorzugten Winzern gehören Pierre Overnoy und Emmanuel Houillon, Etienne Thiébaud, Jacques Puffeney und Alain Labet.

Bei den Beizen wird’s schwieriger von Lieblingen zu schreiben. Zahlreiche Gasthäuser werden überschätzt, andere sollten es lieber gleich bleiben lassen. Eine Adresse sei aber hier erwähnt. Im «Claquets», im einzigen echten Bistrot von Arbois, treffen lokale Winzer auf weinselige Schöngeister und andere Lebenskünstler. Wer Lust auf Weine hat, und wer sich vom rauen Charme der Kellnerin nicht verunsichern lässt, sitzt hier in der ersten Reihe. Nachmittags mutiert das «Claquets» zum Treffpunkt auf ein Glas oder zwei, abends ist um 21 Uhr Schluss. Am Mittag ist es aber der perfekte Ort für ein ausgedehntes Mahl. Zu Beginn setzt sich der Gast an seinen reservierten Tisch, bestellt und serviert sich danach vom Bonsaï-Buffet den Salat und die Tranche Terrine gleich selbst. Die Getränke und das Dessert werden serviert. Wie auch der Hauptgang, der stets in einem Suppenteller daherkommt. Egal ob es ein Entrecôte mit hauseigenen Frites oder ein Lammragout ist. Das mit dem Fleisch und dem Schneiden ist dann so eine Sache, zumal der Suppenteller klein und das Fleisch gross ist. Geführt wird der Betrieb von drei Frauen, die sagen, was hier Sache ist. Wohlverstanden, wer eine feine, gar anspruchsvolle Küche erwartet, denkt falsch. Was hier zählt, ist die unverfälschte Atmosphäre. Im «Claquets» wird auf eine gute Weise Omas Küche der derberen Art zelebriert. Schmecken tut’s trotzdem oder gerade deswegen. Hinzu kommt eine kleine exzellente Weinauswahl, die immer wieder mit aussergewöhnlichen Provenienzen zu sehr fairen Preisen aufwartet. Ja, wenn sich im Jura noch etwas von la Douce France finden lässt – dann hier. Santé.

Martin Jenni ist Journalist und Autor und lebt im Jura. Seine Bücher erscheinen im AT- und Werd-Verlag. Im Oase-Verlag ist in der 7. Auflage sein Buch über den französischen und Schweizer Jura erschienen.